Der Umgang mit Schätzungen

(Ursprünglich gepostet auf meinem Blog. Bin unschlüssig, ob ich das so nochmal schreiben würde. Und gleichzeitig kann es uns hier als schöner Diskussionsstarter dienen.) Legen wir los …

Kommt mit, wir planen eine Reise mit dem E-Auto und schätzen, wann wir ankommen.

Es ist Sommer und Ferienzeit. Da kommt jede Chance gelegen, mal etwas herauszukommen. Für die Gedankenübung heute nehmen wir dafür das Elektroauto. Wenn ihr Fahrradfahrer:innen oder Fußgänger:innen seid, könnt ihr euch eine ähnliche Analogie zurechtlegen. Bahnfahrer:innen und Flieger:innen sind leider raus, da ihr euer Schicksal nur wenig beeinflussen könnt :wink:

Fangen wir an. Ihr müsst auch nur ein paar Regeln beachten. Nennt mir einfach schnell eine Schätzung, ich werde euch ja nicht darauf festnageln. Karten-Apps fallen übrigens leider aus als Hilfe: Compliance-Gründe, Ausfall im Rechenzentrum, Funkloch und das Kartenmaterial ist hoffnungslos veraltet. Legen wir trotzdem los.

Unser erstes Ziel ist das nächstgelegene Gartencenter, schließlich soll es schön sein auf dem Balkon oder der Terrasse. Wie lange werden wir bis zum Ziel brauchen? Ihr habt ein Ergebnis? Gut.

Weiter geht es mit eurem liebsten Badesee. Wann kommen wir an? Ihr habt eine Zahl im Kopf? Gut. Wie ändert sich dieser Wert, wenn wir unter der Woche fahren und nicht am Wochenende? An diesen Unterschied und die Parkplatzsuche habt ihr doch gedacht, oder? Unterwegs möchten wir noch zwei Freundinnen auflesen und Getränke kaufen. Wie beeinflusst das unsere Ankunftszeit?

Dritte Aufgabe: Es gibt da in dieser Stadt zwischen Duisburg und Dortmund ein Einkaufszentrum. Dort gibt es ein Café mit einem wirklich unglaublichen mehrstöckigen Erdbeerkuchen. Wann müssen wir los, damit wir rechtzeitig zur Kaffeezeit am Platz sind?

Wir könnten dieses Spiel beliebig weiterführen: Ich sitze in München, wie lange brauchen wir bis Flensburg? Oder zur schönsten Stadt an der Côte d’Azur?

Ihr habt noch Fragen und Anmerkungen? Wie beispielsweise:

  • Ich habe keine Erfahrung mit E-Autos! Bisher bin ich nur Verbrenner gefahren.
  • Welche Reichweite hat das Fahrzeug?
  • Wo sind denn Ladestationen?
  • Wann fahren wir los? Das hat ja schließlich Einfluss auf das Ergebnis!
  • Ich weiß ja noch nicht mal, wo das ist!
  • Geht die Angabe etwas genauer?
  • Sind da Baustellen auf dem Weg?
  • Wo fangen eigentlich die Ferien gerade an? Oder hören auf?
  • Wie soll man das bewerten können?
  • Wozu das alles?

Einige Fragen davon kann ich beantworten. Bei einigen kenne ich noch nicht alle Details. Bei wieder anderen reagiere ich mit Unverständnis: Auto ist Auto und ihr seid schließlich Experten für Autos.

Mit all euren Ergebnissen fahren wir los. Die Chance, dass wir pünktlich ankommen, sinkt höchstwahrscheinlich mit der Distanz und der Komplexität der Aufgabe. Unterwegs wird es Unfälle und Stau, Bau- und Langsamfahrstellen, Rastpausen, Pannen, Umleitungen und viele Behinderungen und Planänderungen mehr geben.

Die Verspätung finde ich aber doof, schließlich habe ich mich auf eure Angaben verlassen! Die Ankunftszeiten habe ich auf Basis eurer Schätzungen weitergegeben und wie stehe ich denn jetzt da!

Machen wir hier einen Schnitt. Danke für eure Geduld. Ich bin mir sicher, dass ihr ähnliche Situationen im Entwicklungsalltag bereits erleben musstet. Ich trauere bei solchen Austauschen immer um die verlorene Lebenszeit. Dabei haben Schätzungen durchaus ihre Daseinsberechtigung, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden.

Trotzdem müssen wir dieses Schauspiel noch immer mitmachen. Wieso müssen wir uns noch immer durch solche Schätzrunden und Reviews quälen?

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Für mich können Schätzungen durchaus sinnvoll sein…unter gewissen Rahmenbedingungen:

  • sie haben nicht das Ziel, einen Liefertermin für das Management zu nennen
  • dienen einen ersten “groben” Orientierung der Paketgröße (aka Arbeitsumfang)
  • wird nicht auf Basis von mikrosegmentierten Detailschätzungen auf Minutenbasis gemacht
  • dient dem Team zum Überblick, welche Arbeitspakete / User Stories / etc nach aktuellem Wissensstand welchen Umfang haben
  • das Team kennt sich und hat Erfahrung mit der Aufgabe / dem Projekt, dass es angehen soll: ich hatte in einem meiner Projekte (Einführung verschiedener Salesforce-Lösungen) ein sehr erfahrenes , offenes und kompetentes Team. Eigene Entscheidung: sie haben time-boxed Schätzungen mit Planning-Poker durchgeführt. Das Schätzen wurde immer auch als “Discovery” genutzt, um zusätzlichen Diskussionsbedarf, Blind Spots etc zu erkennen und anzugehen.

Ohne diese Rahmenbedingungen sind Schätzungen aber - wie von dir beschrieben - qualitativ auf dem Niveau von “Schneekugelschütteln” und maximal sinnlose Verschwendung von Zeit. Und damit letztlich schlechtes Scrum-Theater. Was wiederum dazu führt, Scrum als Methode zu verbrennen.

Ein/e gute/r SM sollte in der Lage sein zu erkennen, wann Schätzungen sinnvoll sind - und eben nicht. Das beinhaltet auch, das Management dahingehend über die fehlende Eignung von Schätzungen zur Prognose von Lieferterminen heranzuziehen. Bzw. falls das gewünscht ist, eben nicht Scrum als Methode zu nehmen. Oder zu akzeptieren, dass zu einem bestimmten Termin nicht der gewünschte Scope, die gewünschte Qualität / Reifegrad des Produkts, Service et al erreicht werden.

Und da treffen wir wieder auf das Thema “Scrum vs. Real World”… :slight_smile:

Yep, ganz genau.

Hier hilft ggf. ein Blick in die IT-Kanban-Welt. Vereinfacht gesagt werden statistische Prognosen entlang der Lead Time vergangener Items (aus bestimmten Serviceklassen) dazu hergenommen, ein Forecasting zu machen.

Grundsätzlich gilt aber natürlich: Ein Forecasting bleibt erst einmal ein Forecasting. Und es ist unternehmerisch legitim, über Forecastings zu sprechen und idealerweise Inspects & Adapts dazu auf teamübergreifender Ebene zu fahren.

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